Ich habe mich mit unserem Geldsystem beschäftigt, habe meine negativen Erfahrungen mit dem Schulsystem überlebt und durch die Beschäftigung mit Gewaltfreier Kommunikation besser verstanden, wie sich Bewertungen auf unser Miteinander auswirken. Die Essenz all dieser Erfahrungen lassen sich in zwei Worten zusammenfassen:

Bewerten tötet.

Bewertung in Geldwert

Natürlich ist diese Aussage verkürzt. Eine Bewertung tötet uns in aller Regel nicht. Jedoch ist eine Bewertung die Grundlage, damit unsere Bereitschaft wächst, dass wir Leben nehmen oder einen anderen Menschen töten. Wenn wir dem Holz eines Baumes einen Geldwert zuschreiben, dann liefert diese Bewertung einen Grund, dass wir das Leben dieses Baumes beenden. Auch wenn wir das Holz nicht benötigen, so haben wir zumeist den Wunsch nach mehr Geld. Ebenso spielt die Bewertung in Geld eine Rolle, wenn Menschen entscheiden, die Wartung von Flugzeugen zu reduzieren, weil eine eventuelle Entschädigung von Hinterbliebenen voraussichtlich weniger Kosten verursacht.

Die Bewertung unseres Lebens in Geld, sei es in Form einer Entschädigung von Hinterbliebenen oder in Form eines Stundenlohnes. Jede Möglichkeit ein Menschenleben in ein Zahlenwerk zu pressen, ermöglicht es eine Rechnung aufzustellen, in welchen unser Leben als zu gering bemessen wird und es Menschen gibt, welche zumindest die Option – unser Leben auf dem Altar des Geldes zu opfern – billigend in Kauf nehmen.

Bewertung in Schulnoten

Eine andere Form der Bewertung stellen die Noten im Schulsystem dar. Auch wenn die Bewertungen scheinbar objektiv erfolgen, so sind die Festlegungen, was wir in welchem Umfang zu wissen hätten, willkürlich festgelegt. Ebenso verschleiert der Rückgriff auf vermeintlich eindeutige Kategorien, wie richtig und falsch, wie groß der Bewertungsspielraum für Lehrer ist, wenn sie Noten vergeben.

Die Bewertung von jungen Menschen an einem willkürlich festgelegten Maßstab, welcher im Kern darauf basiert, dass diejenigen, welche systemkonform agieren, belohnt werden und diejenigen bestraft werden, welche nicht willens oder in der Lage sind den äußeren Vorgaben entsprechend zu funktionieren, suggerieren ihnen sie seien unbrauchbar für die Gesellschaft, wenn sie deren Normvorgaben nicht erfüllen. Selbst wenn wir unsere Schulzeit überstehen, lernen wir während dieser Zeit Verhaltensweisen der Unterordnung und werden mit Selbstzweifeln und der Vorstellung von Minderwertigkeit ins Leben entlassen.

Sollten Sie sich in einer Situation oder akuten Krise befinden, in welcher Sie sich mit dem Thema der Selbsttötung beschäftigen, suchen Sie sich bitte Unterstützung. Nutzen Sie hierfür gerne das Onlineangebot der TelefonSeelsorge oder die telefonisch Kontaktmöglichkeit unter +498001110111. Danke.

Moralische Bewertung

In unserer Sprache sind wir permanent dabei, das Verhalten anderer Menschen zu bewerten oder sogar zu verurteilen. Es fällt uns sehr leicht festzulegen, welches Verhalten anderer Menschen in Ordnung sei und welches nicht. Zugleich ist uns aus dem eigenen Erleben klar, wie sehr es uns stört, wenn wir von anderen Menschen in dieser Form bewertet werden. Leider hält uns diese Erfahrung nicht davon ab, uns ebenso zu verhalten. Wir wünschen uns einen anderen Umgang miteinander und zugleich fällt es uns schwer, andere Menschen weniger in Kategorien von richtig und falsch einzuordnen und stattdessen über unsere Bedürfnisse zu sprechen.

Natürlich ist es wichtig, dass wir die Situation und Handlungen anderer Menschen bewerten, damit wir in die Lage kommen zu entscheiden, wie wir handeln wollen. Eine moralische Bewertung in Kategorien von richtig und falsch, liefert zumeist nur wenig Informationen darüber, was nicht passt, weil die Bewertung selten begründet wird. Wenn wir hingegen erläutern, warum eine konkrete Handlung gerade nicht unser Bedürfnis erfüllt, kann dies von einem anderen Menschen viel besser verstanden werden und vielleicht finden wir gemeinsam Wege, um mehr von unseren Bedürfnissen einander gegenseitig zu erfüllen.

Meine Lebensgeschichte

Dass ich weiterhin auf diesem Planeten lebe und diese Zeilen verfassen kann, ist alles andere als selbstverständlich. Ich habe erfahren können, wie problematisch es ist, wenn das Thema Selbsttötung tabuisiert wird. Inzwischen weiß ich, wie eingeschränkt meine Sichtweise damals war und was ich verpasst hätte, wäre ich erfolgreich gewesen, mein Leben während meiner Schulzeit zu beenden. Wenn Sie in einer akuten Krise stecken, nutzen Sie bitte passende Hilfsangebote, sprechen Sie mit anderen Menschen über Ihre Gedanken und geben Sie sich Zeit, Ihr Leben weiter zu leben. Jeder Mensch ist wichtig, auch Sie. Ich freue mich, wenn meine Geschichte Ihnen dabei hilft, damit Sie sich für Ihr Leben entscheiden. Vielen Dank.

Die Idee, meine Lebensgeschichte auf diese Weise zu erzählen, erhielt ich im Rahmen des Sommercampus 2023 der Pioneers of Change. Die Aufzeichnung entstand, als ich meine Geschichte „Ich bin. – Wie ich der wurde, der ich war.“ im Rahmen eines Open Space live erzählte. Die Länder, durch welche ich in meiner Geschichte reise, waren Teil eines Großgruppenprozesses während des Sommercampus. Die Länder Stagnationsland, Land des inneren Wandels, Potenzialland und Land des äußeren Wandels waren im Kreis angeordnet – um ein in der Mitte befindliches Niemandsland herum. Unsere Welt bezeichne ich als Wolfswelt, in Anlehnung an die Gewaltfreie Kommunikation. Mein Vortrag hat eine Länge von knapp zehn Minuten.

Erzählung "Ich bin." von Martin Finger.
Meine Erzählung: Ich bin. – Wie ich der wurde, der ich war.

Transkript

Transkript zu meiner Erzählung „Ich bin.“

Einleitung

Ich bin nervös. Ich kann schon mal ausprobieren, ob das, was ich gleich erzähle, authentisch ist. Dieses Hin und Herschwingen zwischen Nervosität, die jetzt – sobald ich anfange zu reden – schwindet, das Spüren, das Kribbeln. Ob irgendwas zuckt. Im Herzen das Gefühl, die Nervosität, die schwindet. Die Sicherheit, die bei mir kommt, in dem Moment, wo Ihr Euch mir zuwendet. Und dann der Verstand, der das alles erklären kann, der das Ganze wahrnimmt und die Präsenz auf all diese Sachen lenken kann und mir bereitstellt. So dass ich direkt in meine Geschichte jetzt einsteigen kann: „Ich bin. – Wie ich der wurde, der ich war.“

Heute ist mein Geburtstag. Heute ist mein vierter Geburtstag. Und das Gefühl, dass das Leben für mich immer wieder in Zyklen beginnt und ich möchte Euch jetzt mitnehmen durch meine drei Lebenszyklen, die bereits hinter mir liegen.

Erster Lebenszyklus

Von meiner ersten Geburt, an die ich keinerlei bewusste Erinnerung habe. Aber ich weiß, wo ich hingeboren wurde. In die Wolfswelt. Mitten hinein in eine Welt, auf die ich nicht vorbereitet war. Und in der ich gelernt habe, die Sprache und wie miteinander umgegangen wird. Ich wusste nicht, was ich dort lernte. Es war das Einzige, was mir beigebracht wurde und verfügbar war. Und was ich nicht wusste, dass die Menschen, die dort miteinander umgehen, nicht sagen, was sie meinen und nicht meinen, was sie sagen. Und trotzdem hielt ich das, was sie sagten, für wahr. Und ich habe gut gelernt.

Es hat 15 Jahre gedauert, bis ich das, was in der Wolfsprache gesagt wird, verinnerlicht hatte, tief verinnerlicht hatte. Ich war bereit, bereit zu töten. Und ich habe getötet. Ich habe mich getötet. Und, in dem Moment, wo ich dann bewusstlos wurde und mein erstes Leben zu Ende war.

Zweiter Lebenszyklus

Die nächste Geburt, die bevor stand, die ich dann erlebt habe, war ein Schock. Ich habe sie nicht verstanden damals. Ich habe überhaupt nicht verstanden, was mit mir passiert war. Heute weiß ich, was passiert ist. Mein Verstand hat meinen Körper genommen und ist mit ihm in die Stagnationswelt geflüchtet. Und er hatte entschieden, mein Herz wegzusperren, mit Wächtern davor, damit ich nie wieder dort einen Kontakt bekomme, weil mein Selbstmord sollte meine letzte Affekthandlung in meinem Leben sein. Nie wieder würde das passieren.

Und so war ich dann in dieser, in dieser Stagnationswelt, Land. In einer dunklen Höhle. Allein. Ich habe insgesamt 15 Jahre in diesem Land auch wieder verbracht. Und es hat viele Jahre gedauert, bevor ich überhaupt die ersten Impulse hatte, diese Höhle wieder zu verlassen. Weil meine Sehnsucht nach Zweisamkeit, nach Verbundenheit, so groß war. Und ich hab versucht. Nein, ich habe dann angefangen, mit Menschen zu sprechen. Und sie haben alle das gleiche gesucht. Und wussten überhaupt nicht, wie das geht, und wussten nicht, wie man in Verbindung kommt, wie man sich Zweisamkeit schenken kann. Hatte uns keiner beigebracht. Und, das Einzige, was wir teilen konnten, war unser Schmerz, davon hatten wir mehr als genug.

Irgendwann gab es Gerüchte. Irgendjemand hat erzählt, es gibt eine andere Gegend, ein anderes Land. Das nannte sich „Innerer Wandel“, da sollte es auch viel Schmerz geben, aber irgendwie noch mehr, mehr drum rum, mehr andere Sachen. Da ich nichts zu verlieren hatte sondern nur viel zu gewinnen, habe ich mich dorthin auf den Weg gemacht. So dass ein Lebenszyklus wieder geendet hat, nach weiteren 15 Jahren.

Dritter Lebenszyklus

Als ich in dieses Land eingetreten bin, gab es meine dritte Geburt. Es war die erste Geburt, die ich bewusst erlebt habe, in Freude. Mit Menschen gefeiert habe. Und, es war mein Startpunkt für meine Heilung. Eine Heilungsweg, in dem ich fünf Jahre lang in diesem Land unterwegs war. Versucht habe zu verstehen. Und in der ich eine neue Sprache gelernt habe. Eine Sprache der Lebendigkeit, die bereit ist auszudrücken, was in mir lebendig ist, was mir wichtig ist, was ich brauche. Und wie es geht, in Kontakt zu kommen. Wie einfach es wäre in Kontakt zu kommen. Einfach indem ich sage: „Ich möchte Kontakt.“

In den fünf Jahren, in denen ich dort geheilt bin, habe ich auch immer schon das Nachbarland bereist, das Potenzialland. Und habe dort lernen dürfen, was mir die anderen Jahre geschenkt wurde. Das anzunehmen und das größte Geschenk zu verstehen, was es bedeutet, dem Tod in die Arme zu springen. Der größten Angst, die mir vorstellbar ist. Die Angst vor dem Sterben, direkt hindurchgegangen zu sein. Und diese Erfahrung dann mir bewusst zu machen und zu transformieren und anzunehmen. Und zu verstehen, dass, dass es ein unglaubliches Geschenk ist, dass ich noch da bin.

Nach diesen fünf Jahren habe ich mich dann langsam bewegt in das Niemandsland, von dem ich weiterhin das Potenzialland besucht habe. Ich bin jetzt zehn Jahre in diesem Land gewesen. Und habe auch immer schon Abstecher gemacht in das andere Land, dass des äußeren Wandels. Und hab mal gekuckt: Wer bin ich jetzt? Wer will ich sein? Wofür, wofür will ich dieses Potenzial, von dem ich immer mehr erfahre, nutzen? Wofür will ich es einsetzen? Was ist meine Idee für mich, für die Welt, und was ist meine Intention dabei?

Ich konnte einfach spüren, wie, wie meine drei Bestandteile: Körper zum Spüren, Herz zum Fühlen und Verstand, um zu verstehen, um zu begreifen, zu einer Einheit wurden. Diese Dinge passieren nicht losgelöst voneinander, sondern ich denke, fühle und spüre alle drei Ebenen zusammen. Und für mich ist einfach wichtig, das in die Welt zu bringen. Und, die große Frage: Warum? Weil, wenn der Schmerz doch so viel Gutes für mich bereithielt, warum es nicht weiter so laufen lassen?

Aufbruch in den vierten Lebenszyklus

Meine tiefe Überzeugung ist, dass wir unser Potenzial besser und schneller entfalten können, wenn wir den Schmerz weglassen. Dass wir diese Strukturen nicht dazu brauchen, um unser Potential zu ziehen, weil wir viel mehr Zeit damit beschäftigt sind, das wieder in Ordnung zu bringen. Und vor allem, weil nicht alle Menschen dieses Glück haben, das wir im Endeffekt mehrere Lebenszyklen in einem Leben bekommen. So wie mein Vater, der im Endeffekt nach seinem ersten Lebenszyklus ausgestiegen ist. Auf dem gleichen Weg. Der also nicht die Möglichkeit [hatte], etwas anderes zu erfahren.

Und deswegen ist es mir so wichtig, in diesem äußeren Wandel, diese, meine Erfahrungen einzubringen. Und dabei zu helfen, dass diese Offenheit, die einfach, wenn wir als Einheit in uns ruhen, für alle Menschen greifbar, fühlbar, erfahrbar wird. Ich hatte schon meine erste Reiseplanung fertig, da wurden zwischen den Ländern plötzlich die Grenzen dicht gemacht. Stopp! Keine Migration mehr, keiner darf irgendwo hin. Alle mussten stehen bleiben.

Huh. Dann, wieder kucken, Energie. Was ist jetzt dran? Und dann habe ich mich entscheiden, meine Vision, die ich in die Welt bringen möchte, aufzuschreiben. Da ist mein Buch entstanden, mit dem ich jetzt zusätzlich gehen kann. Das mich trägt und stützt. Es mir einfach noch mal leichter macht, hierher zu gehen und nachdem die Grenze wieder offen war, ich jetzt auf den ersten Steps unterwegs bin.

Und ein Step, der mich hier zu den Pioneers geführt hat. Und mir noch etwas ermöglicht hat. Während ich meine Vision schon sehr klar hatte, ist mir noch nicht klar geworden, dass meine Lebensgeschichte ich noch nicht umgeschrieben habe. Ich habe immer noch gesagt ich bin ein Kopfmensch. Das habe ich immer noch als Identität beibehalten. Und ich sage jetzt, hier in dieser Woche, mit den Impulsen, die ich bekommen habe: Das bin nicht mehr ich. Dieses Konzept ist mir zu starr. Ich bin eine Einheit, die in allen Ebenen, lebendig ist. Und die nicht gegeneinander, sondern sich unterstützen nach vorn.

Und deshalb bin ich sehr dankbar für diese ganze Woche. Dass ich meine Lebensgeschichte umschreiben konnte, um einen nächsten Baustein loszulassen, aus der Anhaftung rauszukommen und zu sagen: „Ich bin.“

Jeah, Jeah. Applaus. Jubel. Alle knuddeln. Alle zusammen die möchten einen großen Knuddelhaufen.