Nachdem ich im April 2023 mein Konzept zur Existenzethik in der Denkinsel erstmals im kleineren Kreis besprochen habe, möchte ich darüber auch hier im Blog schreiben, um mit mehr Menschen meine Gedanken darüber zu teilen.

Einleitende Überlegungen

Für mich ist es wichtig, eine Differenzierung zwischen dem Begriff der Ethik und der Moral vorzunehmen, auch wenn beide Begriffe oft als Synonyme verwendet werden. Eine Ethik ist für mich ein gedankliches Konstrukt, in welchem sich auf einen oder mehrere Werte bezogen wird. Die Ethik liefert dabei eine – ggf. auch subjektive – Begründung, warum die herausgestellten Werte für wichtig gehalten werden. Eine Moral konzentriert sich darauf, Handlungen mittels eines dualistischen Bewertungsschemas in Kategorien von Gut und Böse oder Richtig und Falsch einzuordnen und bedient sich dabei eher Methoden einer generellen moralischen Verurteilung statt einer situativen Beurteilung einer Handlung und ihrer Umstände. Auch wenn eine Moral ebenso auf Werten basiert, stehen diese – im Vergleich zu einer Ethik – eher im Hintergrund.

Eine Ethik soll mir vor allem Begründungen liefern, warum ich meine Handlungen an einem bestimmten Wert ausrichten sollte, indem sie mir die damit verbundenen Vor- und Nachteile vermittelt. Diese Informationen sollen mich in die Lage versetzen, meine Handlungen sowie die Handlungen anderer Menschen selbstständig zu beurteilen. Mit einer Ethik erhalte ich somit Kriterien an die Hand, um selbst einen Maßstab zur Bewertung von Handlungen zu entwickeln.

Herleitung

Meine Existenzethik beginnt mit dem Gedanken: „Ich bin.“ Dieser ist identisch mit dem 1. Axiom aus meiner Zwei-Welten-Theorie. Der Grund dafür ist leicht nachvollziehbar, auch für die Existenzethik bin ich darauf angewiesen, zunächst meine eigene Existenz festzustellen. Eine Parallele zu Descartes mag hier scheinbar naheliegen, würde uns allerdings in eine andere Richtung führen als diejenige, um welche es mir an dieser Stelle geht. Nach der Feststellung der eigenen Existenz lautet meine These, auf welcher die Existenzethik basiert:

Ich bevorzuge meine Existenz gegenüber meiner Nicht-Existenz.

Auch wenn unsere Handlungen, welche wir kollektiv innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen ausführen, fast schon als Anti-These zu dieser Annahme verstanden werden könnte, so gilt die Existenzethik immer nur individuell. Sie kann nicht im Namen einer abstrakten oder imaginierten Gruppe postuliert werden, da es jedem Menschen selbst überlassen ist, über seine Handlungen zu entscheiden.

Die zunächst nur individuell formulierte These wird nun auf alles projiziert, was existiert. Sowohl geistige als auch materielle Entitäten. Einige Beispiele sind: Gedanken, Lebewesen, Materie, Musik, Sprache, Wissen. Explizit ausgenommen sind hierbei Handlungen. Schließlich soll die Existenzethik dazu befähigen zu entscheiden, ob ich eine Handlung ausführe oder nicht. Würde die Existenzethik Handlungen bereits einschließen, dann würde dies die Ethik selbst obsolet machen, da es keinen Entscheidungsspielraum mehr gäbe, um Handlungen entsprechend ihrer erwarteten Wirkungen auszuwählen.

Ein Wert entsteht nicht aus sich heraus, sondern er basiert immer auf einer willkürlichen Setzung durch uns Menschen. Dies ist bei der Existenzethik ebenso. Dass die Existenz überhaupt zu einem Wert wird, erfolgt durch die Setzung in der These. Durch die Überordnung der Existenz über die Nicht-Existenz ergibt sich diese Wertsetzung. Mit der Projektion der These auf alles Seiende ergibt sich das folgende Axiom:

Alles, was existiert, hat einen Wert, allein aufgrund seiner Existenz.

Definition Existenzethik

Ethik, welche der Existenz allem Seienden – unabhängig von seiner Form oder Zustand, geistig oder materiell – einen Wert beimisst. Nicht von der Existenzethik erfasst sind Handlungen, da sonst kein Entscheidungsrahmen verbliebe, um zu entscheiden, ob eine Handlung ausgeführt oder unterlassen werden sollte.

Anwendungsbeispiel Existenzethik

Jeder Mensch wird die Bewertung der Existenz eines Seienden unterschiedlich einordnen. Hierbei ergibt sich eine Rangfolge, welche immer subjektiv, individuell und über die Zeit variabel ist. Für die folgenden Beispiele gehe ich von dieser Rangfolge aus:

Spinne < Getreidepflanze < Baum < Du < Ich < Nachkommen

Aufgrund der Reihenfolge der verschiedenen Existenzen ergeben sich bestimmte Abwägungen, welche Existenzen ich bereit bin zu beenden, um eine andere Existenz zu erhalten. Dabei ist immer die Grundhaltung, dass ich eine Existenz nur deshalb beende, weil dies für den Erhalt einer anderen Existenz notwendig ist.

Um meine Existenz zu sichern, bin ich bereit die Existenz der Getreidepflanze zu beenden, damit ich mich ernähren kann. Ich würde allerdings nicht den Baum fällen, um der Getreidepflanze die Existenz zu sichern. Benötige ich das Holz des Baumes z. B. für ein Feuer, um im Winter nicht zu erfrieren, wäre dies ein Grund, dessen Existenz zu beenden.

Wenn ich durch die Aufgabe meiner Existenz das Überleben meines Nachkommens sichern kann, wäre auch dies eine plausible Handlungsentscheidung. Während die Tötung der Spinne, nur weil ich sie fürchte oder als unästhetisch empfinde, ein Verstoß gegen die Existenzethik bedeutet. Schließlich hätte ich die Spinne aus Willkür getötet und nicht um eine andere Existenz zu schützen.

Ein grundlegender Konflikt entsteht aus dem Ich-Du-Verhältnis. Ich werde davon ausgehen können, dass meine subjektive Einordnung – meine Existenz über diejenige meines Gegenübers zu stellen – bei meinem Gegenüber ebenso vorhanden ist, nur mit umgekehrten Vorzeichen: er wird seine Existenz über meine stellen. Ausgehend von dieser Überlegung kann ich den logischen Schluss ziehen, dass ich meine Existenz am besten schütze, indem ich die Existenz meines Gegenübers nicht gefährde, sondern helfe diese zu bewahren.

Zusammenfassung

Meine Existenzethik ist so gedacht, dass allem Seienden Wert beigemessen wird. Grundlage ist die Wertschätzung der eigenen Existenz, welche sich dadurch zeigt, dass ich sowohl meine eigene als auch die Existenz anderer schütze. Nur wenn ich meine Handlungen so wähle, dass diese sowohl meine als auch die Existenz anderer ermöglichen, schütze ich meine Existenz nachhaltig.

Wenn ich meine Existenz durch Handlungen versuche zu schützen, welche die Auslöschung anderer Existenzen zur Folge haben können, dann setze ich mutwillig meine eigene Existenz auf Spiel. Bereits mit der Wahl von Handlungen, welche die Option der eigenen Auslöschung beinhalten – durch eigene Handlung oder aufgrund einer möglichen Reaktion anderer – steht diese Wahl bereits im Widerspruch zur Existenzethik.

Dahingegen kann die Entscheidung, die eigene Existenz zu gefährden, als Reaktion zum Schutz der eigenen oder anderer Existenzen wiederum im Einklang mit der Existenzethik stehen, sofern sowohl in den Mitteln als auch im Ziel immer deutlich wird, dass es darum geht, Existenzen zu bewahren. Die Entscheidung ist von jedem Menschen individuell zu treffen und bleibt subjektiv.

An diesem Punkt verbindet sich die Existenzethik mit meinem Konzept der „reziproken Freiheit“, welches ich in meinem Buch „Freiwilliges Grundeinkommen statt Gewalt“ beschrieben habe. In diesem geht es darum, dass ich meine Freiheit auf Handlungen beschränke, welche ich verantworten kann. Verantworten bedeutet hierbei, dass ich alle unerwünschten Handlungsfolgen so vollständig behebe, als wären diese niemals aufgetreten. Die Beurteilung, ob eine Handlungsfolge unerwünscht ist, liegt nicht bei mir, sondern beim Betroffenen selbst.