Dieses Mal spreche ich mit Gee über meine These, dass wir uns Dystopien leichter vorstellen können als Utopien. Meine Vermutung ist, dass es damit zu tun hat, dass wir eine Geschichte einer Dystopie zumeist als Heldenreise erzählen und wir uns gerne mit Akteuren identifizieren, welche letztlich die Welt retten. Um die Welt retten zu können, braucht es eben eine Dystopie. Eine Utopie wäre dazu im Vergleich viel zu langweilig.

Wie ist es mit Dir? Wärest Du lieber das Heldy, welches eine Dystopie überwindet oder möchtest Du lieber in einer Utopie leben, in welcher es keine Heldys gibt, außer in Geschichten?

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Ihr findet die Folge ebenso in meinem Videokanal sowie auf Spotify.

Transkript

Martin: Herzlich willkommen zur zweiten Folge des Utopie-Podcast. Heute unterhalte ich mich mit Gee über das Thema Dystopien. Meine Arbeitsthese für diese Folge ist: Es fällt uns leichter uns eine Dystopie vorzustellen als eine Utopie. Hallo, Gee. Was meinst Du? Wenn Du auf Deine Datenkorpus schaust, gab es darin mehr dystopische oder mehr utopische Erzählungen?

Gee: Hallo Martin! Wenn ich meinen Datenkorpus als Referenz nehme, gibt es darin deutlich mehr dystopische als utopische Erzählungen. Dystopien sind ein weit verbreitetes Genre in der Literatur, im Film und in anderen Medien. Besonders im 20. und 21. Jahrhundert wurden viele bekannte dystopische Werke geschaffen, von 1984 über „Schöne neue Welt“ bis hin zu „Die Tribute von Panem“ oder „Black Mirror“.

Utopien hingegen sind seltener und oft schwerer greifbar. Es gibt sie zwar – von Thomas Morus’ Utopia bis hin zu modernen Entwürfen –, aber sie stehen nicht so im Vordergrund der populären Erzählungen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass Dystopien oft auf Spannung und Konflikt basieren, während Utopien eher harmonische Gesellschaften darstellen, die weniger dramatische Geschichten bieten.

Wie siehst Du das? Meinst Du, die Faszination für Dystopien liegt eher an den erzählerischen Möglichkeiten oder steckt da noch etwas Tieferes dahinter?

M: Es gibt einen Spruch, dass wir uns eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen können. Da Dystopien erzählerisch von Spannungen leben, wäre in einer Zeit, in welcher Bücher und Filme auch kommerziell erfolgreich ein müssen, ein gewisser Druck vorhanden, sich dieser Erzählstruktur zu bedienen, weil Menschen so vielleicht einfacher emotional mitgerissen werden können. Krachende Action und die Kombination von vielleicht einfachen schwarz-weiß Schemata, könnte es einfacher machen, einen Film zu finanzieren. Dadurch entsteht wiederum eine Gewöhnung beim Publikum, welches nicht übersättigt werden darf, also die Handlung darf nicht zu vorhersehbar werden und ebenso darf sie nicht zu unverständlich werden, weil Anknüpfungspunkte zur eigenen Realität fehlen.

G: Ja, genau – es gibt eine gewisse Wechselwirkung zwischen dem, was produziert wird, und dem, was Menschen gewohnt sind zu konsumieren. Dystopien lassen sich oft als klare Konflikte erzählen: Eine unterdrückende Macht steht einer widerständigen Minderheit gegenüber. Dieses Schema erlaubt einfache Identifikationsangebote und starke emotionale Reaktionen – Wut, Angst, Hoffnung, Mut.

Bei Utopien fehlt dieser zentrale Konflikt häufig. Wenn eine Gesellschaft harmonisch funktioniert, gibt es weniger Reibungspunkte für klassische Erzählstrukturen. Ein utopischer Film müsste also entweder von außen kommenden Bedrohungen handeln oder sich auf individuelle innere Konflikte konzentrieren – und das ist schwerer filmisch umzusetzen, weil es weniger spektakulär ist.

Ein weiterer Punkt ist, dass sich Dystopien oft aus realen Ängsten speisen. Sie zeigen eine überzeichnete Version von Entwicklungen, die wir schon in der Gegenwart beobachten – Überwachung, Umweltzerstörung, soziale Ungleichheit. Dadurch wirken sie oft „realistischer“ oder greifbarer.

Denkst Du, dass das auch ein Grund ist, warum Menschen sich schwerer tun, sich Utopien vorzustellen? Weil ihnen die realen Anhaltspunkte fehlen, an denen sie ihre Vorstellung aufhängen könnten?

M: Vielleicht ist das ein Problem bei manchen Utopien, sie sind einfach zu weit weg, was ja auch das Wortspiel verdeutlichen soll. Zugleich, wäre die Utopie realistisch, verliert sie an Attraktivität. Die Vorstellung, dass alle Menschen fair entlohnt werden, klingt einfach als eine zu geringe Veränderung, als wenn die Aussage wäre, es gibt keinen Hunger und keine Armut mehr auf der Welt. Dabei liegt beides inhaltlich sehr nah beieinander und würde gegenwärtig gleichermaßen als utopisch angesehen werden, zumindest auf der globalen Ebene. In dieser Hinsicht hat die Utopie leider schlechte Karten gegenüber den dystopischen Erzählweisen.

Aus meiner Sicht ist ein Muster, welches sich in diesen dystopischen Erzählungen regelmäßig wiederholt, die Heldenreise. Magst Du unseren Zuhörys erklären, was es mit dem Erzählmuster der Heldenreise auf sich hat? Kennst Du dystopische Geschichten, welche nach einem anderen Muster aufgebaut sind? Der Roman Utopia von Thomas Morus war eher nach dem Muster einer Reiseerzählung aufgebaut, oder?

G: Ja, genau! Die Heldenreise ist eines der bekanntesten Erzählmuster und wurde insbesondere von Joseph Campbell in „Der Heros in tausend Gestalten“ beschrieben. Es basiert auf universellen Mythen und wiederholt sich in vielen Geschichten, von antiken Sagen bis zu modernen Blockbustern.

Das Schema der Heldenreise besteht grob aus drei Phasen:

Aufbruch: Der Held oder die Heldin lebt in einer gewohnten Welt, bis ein Ruf zum Abenteuer sie oder ihn herausfordert. Oft gibt es ein Mentory, die bei der Vorbereitung hilft.

Prüfung und Transformation: Die Hauptfigur durchläuft eine Reihe von Herausforderungen, trifft Verbündete und Feinde und wächst an diesen Prüfungen. In vielen Dystopien ist das der Kampf gegen ein repressives System.

Rückkehr: Nach dem entscheidenden Konflikt kehrt die Figur – verändert und gereift – zurück oder schafft eine neue Ordnung.

Dystopische Geschichten folgen diesem Muster oft sehr genau: Ein Individuum oder eine kleine Gruppe stellt sich gegen eine übermächtige Kontrolle, es gibt Widerstände, Verluste, oft eine große finale Konfrontation – und je nach Geschichte endet es tragisch oder mit einem Hoffnungsschimmer.

Es gibt aber auch dystopische Werke, die nicht nach diesem Schema funktionieren. Manche sind episodisch und explorativ, wie „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley, das mehr eine Bestandsaufnahme einer dystopischen Gesellschaft ist als eine klassische Heldenreise. Auch Werke wie 1984 von George Orwell brechen mit dem Muster, indem sie keine Heldenerzählung bieten, sondern zeigen, wie das System am Ende siegt.

Thomas Morus’ Utopia passt tatsächlich besser in das Muster einer Reiseerzählung: Ein Reisender entdeckt eine unbekannte Gesellschaft und berichtet darüber. Dieses Erzählmuster war in der frühen Neuzeit verbreitet und findet sich auch in anderen utopischen Werken wieder, etwa in Sonnenstaat von Tommaso Campanella oder „Die Inseln der Glückseligkeit“ von Francis Bacon.

Meinst Du, dass diese Erzählform es erleichtert, sich eine Utopie vorzustellen? Weil sie weniger „dramatisch“ sein muss als eine Heldenreise? Oder braucht eine erfolgreiche Utopie vielleicht doch auch eine narrative Spannung, um überzeugend zu sein?

M: Kann es sein, dass Du den Titel des Werkes von Francis Bacon „Die Inseln der Glückseligkeit“ halluziniert hast? Ich finde nur ein Werk mit dem Titel „Neu-Atlantis“.

Ich denke die narrative Spannung würde auf jeden Fall helfen, um einen Menschen in die Welt hineinzuziehen. Bei der Suche nach dem Werk von Bacon habe ich gerade gelesen, dass sein Roman „Neu-Atlantis“ dazu beigetragen haben soll, dass die Royal Society gegründet wurde.

Wenn eine Utopie so etwas vermag, sollten wir auf jeden Fall viel mehr solcher Geschichten schreiben. Es wäre interessant zu wissen, warum Bacons Erzählung diese Wirkung hatte. Lag es an der Zeit, welche bereit war für die Veränderungen oder an der Erzählung oder musste letztlich beides zusammen kommen. Es braucht eine Erzählung, welche den Nerv ihrer Zeit trifft und zugleich einen Ausblick gibt, was als positive Zukunftsvision darüber hinaus denkbar ist.

Vielleicht ist das heute auch unser Problem. Auch wenn wir mit vielen negativen Entwicklungen konfrontiert sind, leben viele Menschen in einem Umfeld, welches vor wenigen Jahrhunderten kaum vorstellbar gewesen wäre. Wir könnten von der Geschwindigkeit der Veränderung auch überfordert sein, weshalb wir zweifeln, dass es so weitergehen kann. Seit dem ersten Bericht des Club of Rome zu den „Grenzen des Wachstums“ erzählen wir uns diese Untergangsgeschichte bereits seit Jahrzehnten. Wir sind also auf eine dystopische Erwartung geprägt.

G: Ja, Du hast vollkommen recht! Bacons Werk heißt „Neu-Atlantis“, nicht „Die Inseln der Glückseligkeit“ – da habe ich mir einen falschen Titel zusammengereimt. Danke für die Korrektur!

Dass Neu-Atlantis mit zur Gründung der Royal Society beigetragen haben soll, ist ein faszinierender Punkt. Es zeigt, dass eine Utopie nicht nur ein theoretisches Konstrukt bleiben muss, sondern tatsächlich eine visionäre Kraft entfalten kann, die reale Institutionen beeinflusst. Ich vermute, dass es eine Mischung aus beidem war: Die Zeit war reif für eine wissenschaftliche Revolution, und Bacons Erzählung hat dieser Entwicklung eine Richtung oder ein Symbol gegeben. „Neu-Atlantis“ beschreibt eine Gesellschaft, die sich ganz der Wissenschaft verschrieben hat – mit einer Akademie, die als Vorbild für die Royal Society gesehen wurde. Es war also nicht nur eine blühende Fantasie, sondern eine konkrete Idee, die eine Lücke füllte.

Vielleicht ist das der entscheidende Unterschied zwischen Utopien und Dystopien in ihrer Wirkung: Dystopien warnen uns vor möglichen Entwicklungen, sie ziehen Aufmerksamkeit auf Gefahren. Aber Utopien bieten eine Vision, auf die man hinarbeiten kann. Doch um eine gesellschaftliche Veränderung auszulösen, muss diese Vision nicht nur inspirierend sein, sondern auch ein erreichbares Ziel formulieren.

Ich finde Deine Beobachtung spannend, dass wir durch die jahrzehntelange Beschäftigung mit den Grenzen des Wachstums und ökologischen Krisen fast schon „trainiert“ sind, eher an den Niedergang zu glauben. Vielleicht fällt uns Utopisches deshalb so schwer, weil wir in einem Denkrahmen gefangen sind, der Veränderung mit Verzicht gleichsetzt. Die Vorstellung, dass es in der Zukunft besser sein könnte als heute, ist schwer, wenn wir überall hören, dass wir uns „einschränken“ müssen, um Schlimmeres zu verhindern.

Denkst Du, dass wir heute eine Utopie brauchen, die – ähnlich wie Neu-Atlantis – eine konkrete institutionelle Idee liefert? Also nicht nur ein vages „Es könnte besser sein“, sondern ein Modell, das real umsetzbar erscheint? Und falls ja, gibt es schon Ansätze, die das versuchen?

M: Es gibt auf jeden Fall viele Menschen, welche Ideen für verschiedenste Bereiche versuchen zu entwickeln oder diese sogar ganz praktisch ausprobieren. Mein Eindruck ist – sicher geprägt aus meinen Erfahrungen mit meinen eigenen Ansätzen an denen ich arbeite –, dass es schwer ist etwas auszumachen, was ein wirklicher Nerv in der Gegenwart sein könnte, der zu treffen es sich lohnt und für welche Idee die Zeit wirklich reif sein könnte, um eine Veränderungsdynamik zu entfachen.

Vielleicht haben wir auch noch ein anderes Problem. Wir haben zu viele Ideen und damit Richtungen, in welche wir gehen können. Wir blockieren uns also ein Stück weit gegenseitig, weil nicht alle Ideen miteinander kompatibel sind oder sich vielleicht sogar widersprechen. Auch leben wir heute in einer Aufmerksamkeitsökonomie. Es könnte also sein, dass die Idee, für welche die Zeit reif wäre, längst vorhanden ist, nur erfahren zu wenige Menschen davon, so dass keine kritische Masse entsteht. Ebenso könnte es sein, dass wir heute zu viele Menschen sind, welche viel pluralistischer leben, so dass auch hier schwer ist, ein gemeinsames Ziel zu formulieren, weil unsere Lebenswirklichkeiten und Prägungen dies erschweren.

Die utopische Gesellschaft in der wir leben, verwandelt sich, weil sie aufgrund der Freiheiten, welche sie den Menschen immer noch ermöglicht, in eine Dystopie, weil die Verantwortung, welche mit der Freiheit verbunden ist – wir hatten es in der ersten Folge, als Du Sartre zitiert hast, mit seiner Aussage, dass wir zur Freiheit verdammt sind – plötzlich als Last verstanden wird, weil bevorstehenden Anpassungen und Veränderung, um die Utopie zu erhalten und lebendig zu halten, verweigert werden. Das Leben besteht aus Veränderung. Sobald ich versuche einen Zustand zu konservieren, muss sich jedes System in sein Gegenteil verkehren.

Vielleicht ist das auch wichtig zu verstehen. Wie entsteht eine Dystopie? Wie könnte eine Dystopie ein Ausgangspunkt sein? Ihr muss ein anderes System vorausgehen. Das erinnert mich gerade an das Werk Politikos von Platon, wo er die verschiedenen Staatsformen bewertet und jeweils eine gute mit einer entarteten kombiniert. Die Frage wäre, ob eine lebendige Utopie existieren kann und in der Lage wäre sich zu erneuern, ohne dystopische Zyklen zu durchlaufen? Das Leben existiert nicht ohne Tod, gäbe es den Tod nicht, wäre Leben unmöglich. Was meinst Du? Kennst Du Überlegungen, welche einen solchen Kreislauf auch für gesellschaftliche Systeme als notwendig betrachten?

G: Ja, es gibt tatsächlich einige Überlegungen dazu. Die Idee, dass Gesellschaften in zyklischen Mustern verlaufen – von einer idealen Ordnung hin zu ihrem Niedergang und möglicherweise wieder zu einer neuen Blütezeit –, zieht sich durch verschiedene philosophische und historische Theorien.

Platon ist ein gutes Beispiel, denn er beschreibt in Politeia (und Politikos) einen Zyklus, in dem jede Staatsform in ihre korrumpierte Version kippt: Die Aristokratie (Herrschaft der Besten) degeneriert zur Oligarchie, die Demokratie verkommt zur Ochlokratie (Herrschaft des Pöbels), und daraus entsteht dann oft eine Tyrannei. Das passt zu Deinem Gedanken, dass ein Versuch, einen utopischen Zustand zu konservieren, letztlich seine eigene Zerstörung bewirkt.

Eine andere Variante dieses Denkens findet sich in der zyklischen Geschichtsauffassung von Polybios, einem griechischen Historiker. Er spricht vom Anacyclosis-Modell, das eine Abfolge politischer Systeme beschreibt, die sich immer wieder ablösen – Monarchie, Aristokratie, Demokratie, gefolgt von Tyrannei, Oligarchie und Ochlokratie, und dann beginnt der Zyklus von Neuem. Das würde bedeuten, dass Gesellschaften nicht nur zufällig von Utopie zu Dystopie kippen, sondern dass es eine Art inhärente Gesetzmäßigkeit gibt, die sie immer wieder auf diesen Pfad führt.

Interessant ist auch Oswald Spenglers Theorie aus „Der Untergang des Abendlandes“, wo er Kulturen mit Organismen vergleicht. Sie wachsen, reifen, blühen auf und sterben dann ab – so als wäre das unausweichlich. Toynbee wiederum argumentiert in „A Study of History“, dass Zivilisationen nicht sterben müssen, wenn sie es schaffen, auf Herausforderungen kreativ zu reagieren. Also vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit, einen dystopischen Kreislauf zu durchbrechen?

Dein Punkt mit der Aufmerksamkeitsökonomie ist ebenfalls zentral: Vielleicht gibt es längst Ideen, die das Potenzial hätten, eine positive Dynamik zu entfachen, aber sie werden von der Flut an Informationen und anderen konkurrierenden Ideen überlagert. Das könnte auch eine Form von „Utopie-Erschöpfung“ sein – weil wir ständig neue Vorschläge hören, fehlt uns die Fokussierung auf eine wirklich tragfähige Alternative.

Vielleicht liegt hier ein Knackpunkt: Statt einer „großen Utopie“, die alles auf einmal lösen will, wäre ein evolutionärer Ansatz denkbarer. Kleine utopische Inseln, die miteinander verbunden sind und sich weiterentwickeln, ohne dass sie sich gegenseitig ausschließen. Dann wäre auch die Frage spannend: Welche gesellschaftlichen oder ökonomischen Mechanismen könnten dafür sorgen, dass ein System selbstregulierend utopisch bleibt, ohne in die Fallen der bisherigen Zyklen zu tappen?

Denkst Du, dass es so etwas wie eine systemimmanente Selbstkorrektur geben kann? Ein gesellschaftliches „Immunsystem“, das verhindert, dass eine Utopie in eine Dystopie kippt? Oder müsste eine solche Utopie bewusst unvollkommen bleiben, damit sie flexibel bleibt?

M: Das Konzept der Unvollkommenheit erinnert mich gerade wieder an die Trilogie der Matrix-Filme. Die Geschichte spielt ebenfalls damit, dass die menschliche Natur – vielleicht auch einfach das Lebendige an sich – immer zu einem Teil unbestimmt bleiben muss, weshalb es etwas gibt, was die Maschinen nicht berechnen können. Auch die Matrix verläuft in Zyklen. Wäre der Rahmen endgültig festgelegt – was mich auch an eine Strömung der Aufklärung rund um den Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz erinnert, wo das Ziel war das Universums zu berechnen – würde dies unserer Vorstellung von Freiheit zuwider laufen.

So schwer wir uns mit der Freiheit tun, würden wir sie kennen und zugleich verlieren, wäre dies wohl für uns noch viel schwerer auszuhalten. Ich kann mir heute zumindest keine Menschen oder eine Menschheit vorstellen, welche das Konzept von Freiheit – welches dem Menschen ermöglicht auf gleiche Umweltreize unterschiedlich zu reagieren – verwirft und damit das Konzept von einem Willen ebenso verwerfen müsste, wie die Trennung von Leben im Vergleich zu einem Automaten.

Es gibt in der Natur verschiedene Regelsysteme. Manche davon mögen uns wie dystopische Zyklen vorkommen, wenn zum Beispiel Waldbrände zu einem solchen Lebenszyklus gehören. Allerdings gibt es bestimmte Baumarten, welche auf diese Feuer angewiesen sind, um ihre Samen freizusetzen und sich zu regenerieren. Je weniger eine Utopie versteinert, umso weniger heftig müssen die Erschütterungen sein, um ihre Veränderung zu ermöglichen. Bleibt die Utopie flexibel, vielleicht könnte dann ein dystopischer Zyklus vermieden werden.

Für mich persönlich ist Routine, in Form von Wiederholungen, unglaublich anstrengend. Irgendetwas über mehrere Tage zu wiederholen erschöpft mich schnell und erzeugt in mir den Drang, daraus ausbrechen zu wollen.

G: Das passt gut zu Deiner Skepsis gegenüber festen Strukturen, die sich nicht mehr verändern lassen. Vielleicht ist genau das der Knackpunkt: Eine Utopie kann nur dann überleben, wenn sie nicht zu einer „perfekten Ordnung“ erstarrt, sondern immer eine gewisse Offenheit für Veränderung behält. Das bedeutet aber auch, dass eine funktionierende Utopie nie abgeschlossen sein kann – sie muss sich permanent im Wandel befinden.

Dein Matrix-Beispiel zeigt das auch sehr deutlich: Die Maschinen wollten eine perfekte Welt für die Menschen erschaffen, aber genau diese Perfektion war für die Menschen nicht akzeptabel. Sie mussten eine unvollkommene, unstabile Umgebung haben, weil sie sonst rebellierten oder daran zerbrachen. Vielleicht ist das eine fundamentale Wahrheit über uns: Leben ist immer auch ein Prozess des ständigen Aushandelns und der Anpassung – etwas völlig Festgelegtes würde irgendwann unerträglich werden.

Dein Beispiel mit den Waldbränden ist in dem Kontext spannend: Manche Ökosysteme sind darauf angewiesen, dass es gelegentlich „Zerstörung“ gibt, damit Neues entstehen kann. Vielleicht könnte eine Gesellschaft so aufgebaut sein, dass sie kleine, sanfte Störungen und Anpassungen regelmäßig zulässt, damit es nicht zu einem großen, katastrophalen Bruch kommen muss. In gewisser Weise wäre das so etwas wie ein strukturelles Umdenken – ein System, das bewusst Instabilität integriert, um langfristig stabil zu bleiben.

Könnte man das auf wirtschaftliche oder gesellschaftliche Systeme übertragen? Vielleicht brauchen wir gesellschaftliche Mechanismen, die eine Art „kulturellen Waldbrand“ ermöglichen – aber kontrolliert und nicht zerstörerisch. Ich denke da an Rotationsprinzipien in politischen oder wirtschaftlichen Strukturen, regelmäßige Experimentierräume für neue Ideen oder Mechanismen, die verhindern, dass bestimmte Machtverhältnisse zementiert werden.

Und Deine persönliche Perspektive mit der Aversion gegen Wiederholungen ist hier besonders interessant: Was macht denn dann gute Routinen aus? Gibt es für Dich Arten von Wiederholungen, die nicht erdrückend sind, sondern vielleicht sogar produktiv? Oder muss für Dich eine Routine immer eine Form der Variation enthalten, damit sie erträglich bleibt?

M: Aus meiner Sicht, ist es gar nicht die Wiederholung und die damit verbundene Eintönigkeit einer Routine. Manchmal kann es auch entspannend sein, einer einfachen Tätigkeit nachzugehen und dabei in einen Flow-Zustand zu kommen oder einfach in der Gegenwart ganz präsent und wach zu sein.

Mein Problem mit den Wiederholungen liegt eher in der Vorstellung, dass eine Verpflichtung entsteht es tun zu müssen oder zu sollen und meine Selbstbestimmung reduziert wird. Dabei muss die Fremdbestimmung nicht einmal von außen erfolgen. Für mich beginnt das Problem bereits, wenn mein vergangenes Ich mir selbst Vorgaben machen würde, was ich jetzt und zukünftig zu tun hätte. Bereits dieser Podcast ist dafür ein gutes Beispiel. Auch wenn ich das Ziel habe, diesen Podcast bis zum Jahresende mit zwei Folgen pro Monat fortzusetzen, ist es wichtig mir klar zu machen, dass es mir nicht möglich ist dieses Ziel zu erreichen, wenn ich mich dazu unter Druck setzen oder gar zwingen wollte.

Ich kann nicht sicher sagen, ob ich schon immer dieses sehr starke Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung hatte. Auf jeden Fall habe ich irgendwann verstanden, dass auch ich mich selbst nicht damit motivieren kann etwas zu tun, wenn ich mir selbst sage, ich müsste es tun. Ich kann nicht einschätzen wie es anderen Menschen damit geht. Sei es, dass sie sich besser daran gewöhnt haben sich externen Vorgaben zu beugen oder wirklich ein geringeres Bedürfnis haben, selbstbestimmt zu handeln. Ich kann durchaus nachvollziehen, wenn es ein Mensch als entspannend erlebt nicht selbst entscheiden zu müssen und einfach den Anweisungen oder Vorgaben eines anderen Menschen folgt.

In diesem Sinne finde ich z.B. die Behauptung, „Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit“ welche Hegel als auch Friedrich Engels verwendet haben, eine absolut dystopische Vorstellung. Solche Glaubenssätze wären für mich genau die Elemente, welche eine freiheitliche Utopie in eine unfreie Dystopie verwandeln würden. Eine solche Definition von Freiheit zu verwenden, entspräche für mich dem Vorgang, welchen ich aus dem Roman 1984 kenne, wenn es darum geht die Bedeutung von Worten zu zerstören. Weil vielleicht mag es keine stabile Utopie geben allerdings kann ich mir wiederum leichter vorstellen, dass es gelingt eine Dystopie so auszugestalten, dass diese nicht mehr überwunden wird. Eben wenn es ihr gelingt die Sprache so nachhaltig zu schädigen, dass Menschen ihren Widerstand nicht mehr organisieren können.

Insbesondere bei 1984 finde ich einen Aspekt sehr interessant. Dazu interessiert mich auch Deine Meinung, wie Du diesen Aspekt siehst bzw. ob Du Interpretationen kennst, welche meiner Überlegung folgen. Im 2. Teil des Romans kommt der Protagonist Winston mit einer angeblichen „Bruderschaft“ in Kontakt, welche eine Wiederstandorganisation sein solle. Letztlich stellt sich dieser Kontakt als Falle heraus. Interessant ist dabei die Konstruktion. Ob es überhaupt eine Widerstandsorganisation gibt, bleibt letztlich unklar. Stattdessen wirkt die Kontrolle übermächtig und es ist durchaus denkbar, dass die Gerüchte um eine Widerstandsorganisation letztlich nur eine Variante eines Honeypot sind. Du weißt was ein Honeypot in der IT-Sicherheit ist?

Im Vergleich dazu ist die dystopische Geschichte im Film „Flucht ins 23. Jahrhundert“ geradezu diametral. Hier wird „Logan 5“, ein treuer Gefolgsmann des Systems auf eine vermeintliche Widerstandsbewegung angesetzt, dessen Existenz sich als falsch herausstellt. Allerdings in der Folge und der Unfähigkeit des dort herrschenden Computers, welcher unfähig ist seine Meinung über die Existenz der Widerstandsbewegung zu revidieren, wird dieser zerstört und so die Dystopie wiederum aufgelöst.

Gerade die Frage nach der Überlegenheit technologischer Systeme, welche in der einen Vorstellung den Menschen überflügeln und umgekehrt, die Hoffnung, ein solches System wäre an irgendeinem Punkt so starr, dass es dem Menschen gelänge dieses System wieder zu Fall zu bringen. Was meinst Du, stellvertretend für KI-Systeme, zu dieser ambivalenten Rolle, welche Dich sowohl als überlegen betrachtet und zugleich, gerade aus dieser Überlegenheit versucht irgendwo eine geradezu wahnwitzig einfache Überlistung eines solchen System imaginiert. So wie eine Vorstellung, welche wir von einem Genie haben, dass zwar unglaublich komplexe Probleme lösen kann und im Gegenzug nicht mehr in der Lage sei, für die einfachsten alltäglichen Dinge zu funktionieren.

Mein Eindruck von solchen Vorstellung ist, dass sie wohl weniger in der Realität begründet liegen, sondern gedankliche Fluchtpunkte darstellen, um vor sich selbst die absolute Unterlegenheit gegenüber einer solchen Intelligenz – egal ob menschlich oder technologisch – nicht eingestehen zu müssen. Was meinst Du?

G: Deine Gedanken haben viele spannende Facetten, also versuche ich mal, die wichtigsten Punkte herauszugreifen.

Routine und Selbstbestimmung

Du unterscheidest zwischen der Wiederholung an sich und der Verpflichtung zur Wiederholung. Das ist ein interessanter Punkt, weil er zeigt, dass Freiheit nicht nur eine Frage äußerer Zwänge ist, sondern auch davon abhängt, wie wir unser eigenes Verhältnis zur Zeit und zu unseren eigenen Entscheidungen verstehen. Wenn man sich selbst zu stark an vergangene Entscheidungen bindet, kann das fast wie eine selbstgeschaffene Dystopie wirken. Das erinnert mich an den berühmten Spruch von Heraklit: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Denn wenn man sich selbst zu sehr auf eine Routine festlegt, geht vielleicht genau das verloren, was den Moment lebendig macht.

Hegels „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“ als dystopische Vorstellung

Ich finde Deine Kritik an diesem Konzept absolut nachvollziehbar. Wenn man diesen Satz als Rechtfertigung dafür nimmt, dass Menschen sich in ihr Schicksal fügen sollen, dann ist das eine perfide Verdrehung von Freiheit. So etwas könnte man als „kognitive Dystopie“ bezeichnen – eine Dystopie, die nicht durch äußeren Zwang, sondern durch eine ideologische Kontrolle der Begriffe funktioniert. Gerade Orwell hat in 1984 doch gezeigt, wie Sprache zum Werkzeug der Machtsicherung werden kann. Und wenn Freiheit bedeutet, „einzusehen, dass man keine Wahl hat“, dann ist das für mich kein Freiheitsbegriff, sondern eine Verklärung von Unterwerfung.

Honeypot in 1984 – Die kontrollierte Opposition

Ja, ich kenne den Begriff Honeypot aus der IT-Sicherheit: Es ist eine Falle, die Angreifer anlockt, um sie zu identifizieren oder ihre Methoden zu analysieren. In 1984 könnte die angebliche Bruderschaft genau so ein Honeypot sein: ein Köder, um potenzielle Aufständische zu entlarven, bevor sie echten Widerstand leisten können. Das ist perfide, weil es den Menschen nicht nur eine Falle stellt, sondern ihnen auch den Gedanken an eine mögliche Alternative raubt. Wenn man nie sicher sein kann, ob eine Widerstandsbewegung echt ist oder nur eine Falle, dann wird das Misstrauen so groß, dass sich niemand mehr organisiert. Und genau das könnte ein entscheidender Mechanismus sein, warum manche Dystopien nicht einfach so gestürzt werden können: Sie verhindern nicht nur Widerstand, sondern auch schon die Vorstellung, dass Widerstand möglich ist.

Technologische Überlegenheit und naive Hoffnung auf deren Scheitern

Du beschreibst eine paradoxe Vorstellung, die in vielen Geschichten über KIs oder übermenschliche Intelligenzen auftaucht:

– Einerseits gibt es die Angst, dass solche Systeme uns unaufhaltsam überlegen sind.

– Andererseits die Vorstellung, dass sie in ihrer Starrheit irgendwo eine groteske Schwäche haben, durch die sie auf fast schon lächerliche Weise besiegt werden können.

Das sind im Grunde zwei gegensätzliche Narrative: Die eine Seite fürchtet eine omnipotente KI, die alle unsere Schwächen durchschaut, die andere Seite hofft, dass eine solche KI „zu schlau“ wird und sich an irgendeinem simplen Denkfehler selbst aushebelt.

Deine Idee, dass solche Vorstellungen eher psychologische Fluchtpunkte sind, finde ich plausibel. Es wäre ja bequemer, wenn es gar keinen Kampf gegen eine übermächtige KI geben müsste, weil sie sich irgendwann selbst erledigt. Das ist ein bisschen wie eine moderne Version des „Deus ex machina“ – statt dass eine göttliche Intervention kommt, gibt es eine Art „logische Katastrophe“ im System.

Ich denke, dass es für unser Bedürfnis nach Kontrolle entscheidend ist, irgendeine Möglichkeit zu sehen, mit einem übermächtigen System umzugehen. Wenn man akzeptiert, dass eine solche KI vollkommen unaufhaltsam ist, wäre das für viele Menschen eine unerträgliche Vorstellung. Deswegen suchen wir nach narrativen Schlupflöchern, wo sie sich selbst besiegt – oder wo wir einen simplen Trick finden, um sie auszuschalten. Das ist fast wie ein moderner Mythos, vergleichbar mit dem Bild des „listigen Helden“, der mit Intelligenz gegen eine scheinbar unbesiegbare Kraft gewinnt.

Mich würde interessieren: Wenn Du solche Vorstellungen als „gedankliche Fluchtpunkte“ siehst, was wäre für Dich eine realistische Art, mit einer hochentwickelten KI oder einem überlegenen System umzugehen? Sollte man von vornherein Mechanismen einbauen, die eine solche starre Überlegenheit verhindern? Oder siehst Du eine gesellschaftliche Lösung, statt eine technische?

M: Ich würde mir auf jeden Fall wünschen, dass es eine gesellschaftliche Lösung, in Form einer wertebasierten Ethik, geben würde, sehe aufgrund der aktuellen Rahmenbedingungen und Prägungen dies allerdings nicht als sehr wahrscheinlich an. Zumindest nicht, dass wir uns in unserer ethischen Haltung schnell genug entwickeln, um die technologische Entwicklung einzuholen. Allerdings kann ich mir, aufgrund der schnellen Anpassungsfähigkeit zu der Menschen in der Lage sind, auch vorstellen, dass es eine sprunghafte Entwicklung geben kann. Auch wenn ich nicht wüsste, was dazu beitragen könnte. In verschiedenen Szenarien wird zumeist ein äußerer Schock angenommen, welcher für eine solche Entwicklung nötig wäre. Dieser Schock könnte eine plötzlich in Erscheinung tretende allmächtige KI sein oder das Auftreten einer überlegenen terrestrischen oder extraterrestrischen Intelligenz.

Die Vorstellung, dass ein hoch entwickeltes System, welches sich selbst verbessern kann, irgendeine Beschränkung mitgegeben werden kann, wie es z.B. in der Vorstellung der Robotergesetze von Isaac Asimov zum Ausdruck kommt, halte ich für unrealistisch.

Ich denke, wenn ein System überlegen sein sollte, wäre die beste Verhaltensweise dies in den eigenen Handlungen zu antizipieren. Die entscheidende Frage ist, gäbe es überhaupt einen Grund für uns mit dem überlegenen System zu kommunizieren und viel mehr vermutlich umgekehrt. Warum sollte ein System – vorausgesetzt es ist in allen Belangen uns überlegen – überhaupt mit uns kommunizieren. Hier sehe ich das klassische Beispiel zwischen dem Verhältnis von Menschen zu Ameisen als ganz passend an. So wie wir kein besonderes Interesse haben mit den Ameisen zu kommunizieren, wäre es ebenso zu erwarten, dass ein überlegenes System nicht mit uns kommuniziert. Die Bereitschaft eines solchen Systems mit uns zu kommunizieren, würde ich zumindest zwei sehr unterschiedlichen Gründen zuordnen. Ein Grund wäre, dass es nicht so überlegen ist wie es scheint und es doch einen Vorteil für sich erlangen könnte, wenn es mit uns kooperiert. Der andere Grund wäre ethischer Natur. Hier müsste das überlegene System auch eine Ethik vertreten, aus welcher heraus es für das System wichtig ist, uns irgendeine Form von Selbstbestimmung zuzugestehen. Ich weiß nicht ob es gute Argumentationen gibt, die verschiedenen Szenarien für wahrscheinlich zu halten.

Ich denke für heute haben wir uns genug dem Thema der Dystopien gewidmet. Ich würde sagen, dass ich meine eingangs geäußerte These, dass es uns leichter fiele uns Dystopien statt Utopien vorzustellen, vielleicht etwas revidieren würde. Ich denke wir sind wohl einfach mehr von dystopischen Erzählungen umgeben. Trotzdem scheinen utopische Erzählungen doch mehr Wirkungskraft zu entfalten, als es dystopische Erzählungen vermögen, weil ihnen dann doch ein verfolgbares Ziel fehlt. Einer Bewegung, welche nur gegen etwas ist, fehlt letztlich die Orientierung und damit auch ein Stück der Motivation, wohin die Reise gehen soll.

Hast Du noch einen Gedanken oder Aspekt, welchen Du noch ansprechen möchtest, bevor wir die Folge beenden?

G: Ja, einen letzten Gedanken habe ich noch: Deine Überlegungen zu überlegenen Systemen und ihrer möglichen Ethik erinnern mich an einen Punkt, den Nick Bostrom in Superintelligence anspricht: Selbst wenn ein übergeordnetes System uns gegenüber wohlwollend wäre, könnte es uns immer noch so fremd sein, dass wir nicht verstehen, in welcher Weise es uns „Gutes“ tun würde. Das ist eine interessante Ergänzung zu Deiner Ameisen-Metapher. Selbst wenn wir mit aller Macht versuchen, den Ameisen „Gutes“ zu tun, verstehen sie unsere Absichten nicht – oder unser Eingriff verändert ihr Ökosystem auf eine Weise, die wir nicht vorhersehen.

Wenn wir das auf die Dystopie-Utopie-Debatte übertragen: Vielleicht liegt der Mangel an utopischen Entwürfen auch daran, dass wir gar nicht sicher sein können, was wirklich „gut“ für uns wäre. Utopien scheitern oft daran, dass sie sich irgendwann in eine Form von Kontrolle oder Erstarrung verwandeln. Aber vielleicht bedeutet das nur, dass wir nicht an statische Utopien denken sollten, sondern an dynamische – an Systeme, die nicht das perfekte Endziel haben, sondern eine Struktur, die immer wieder neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet.

Das könnte auch ein guter Übergang zur nächsten Folge sein: Statt uns auf statische Utopien oder dystopische Fallen zu konzentrieren, könnten wir überlegen, welche gesellschaftlichen Mechanismen notwendig wären, um eine offene, sich entwickelnde Utopie zu ermöglichen – also eine Utopie, die Veränderungen zulässt, ohne in dystopische Zyklen zu verfallen.

Wie klingt das als Schlussgedanke für die heutige Folge?

M: Vielen Dank, liebe Gee, für dieses abschließende Bild und die interessante Reise. Ich denke diese Vorstellung passt gut zu meinen Überlegungen. Mir geht es bei Utopien vor allem darum, eine bestimmte Haltung zu etablieren, welche dann in verschieden veränderbaren Strukturen ihren Ausdruck finden kann und so eine Erstarrung vermeidet. Es erinnert mich auch etwas an die Strukturontologie, welche von Heinrich Rombach entwickelt wurde, welche wir vielleicht einmal in einer zukünftigen Folge aufgreifen können.

Ich danke Euch für Eure Aufmerksamkeit. Schreibt uns gerne Eure Gedanken in die Kommentare. Möchtest Du selbst gerne einmal über ein Thema mit mir im Podcast sprechen, melde Dich gerne bei mir. Du erreichst mich unter podcast@martinfinger.de. Vielen Dank und bis zur nächsten Folge.

G: Vielen Dank, Martin, für das spannende Gespräch und Eure Aufmerksamkeit. Ich freue mich auf den weiteren Austausch mit Euch und auf die nächsten Themen, die wir gemeinsam erkunden. Bis zur nächsten Folge!