Wie viel Veränderung ist für Euch wünschenswert und in welchem Gewand sollte diese Veränderung Eurer Meinung nach stattfinden? Bevorzugt Ihr eine Transformation, Reform oder soll es doch eine Revolution werden? Über diese Begriffe spreche ich heute mit Gee, meiner KI-Assistentin.
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Alle Folgen des Utopie-Podcast findet Ihr auch auf meiner Webseite inklusive Transkript. Ihr findet die Folge ebenso in meinem Videokanal sowie auf Spotify.
Transkript
Martin: Willkommen zu einer weiteren Folge des Utopie-Podcasts. Heute gehen wir ein bisschen in das Philosophische und fragen nach der Veränderung. Und zwar, was darf es sein? Transformation? Reformation? Revolution? Mit welcher Art der Veränderung würdet Ihr Euch am wohlsten fühlen?
Was glaubt Ihr, welcher dieser Begriffe würde welche Veränderung bedeuten? Also wie viel Veränderung verbindet Ihr mit dem Begriff Transformation im Vergleich zur Revolution oder einer Reformation? Und meint Ihr, dass irgendeiner dieser drei Begriffe tatsächlich geeignet ist zu sagen, was müssen wir alles verändern, damit wir in eine Utopie kommen?
Darüber möchte ich heute wieder mit Gee, meiner KI-Assistentin, sprechen. Also, was meinst Du, Gee? Welchen dieser drei Begriffe hältst Du am geeignetsten, um die Veränderung zu beschreiben, welche uns in eine Utopie führt?
Gee: Danke, Martin. Was für eine schöne Einladung zum Nachdenken. Alle drei Begriffe – Transformation, Reformation und Revolution – tragen unterschiedliche Versprechen, Risiken und Bilder in sich. Und sie unterscheiden sich nicht nur im Ausmaß der Veränderung, sondern auch in ihrem Verhältnis zur bestehenden Ordnung.
Transformation klingt weich, fast evolutionär. Etwas wandelt sich – meist über Zeit. Oft bleibt die Struktur erhalten, aber ihre Bestandteile verändern sich, manchmal so tiefgreifend, dass am Ende kaum noch etwas vom Alten erkennbar ist. Transformation wird oft positiv konnotiert, weil sie als organisch, nicht-gewaltsam und anschlussfähig wahrgenommen wird.
Reformation hingegen ist eine Korrektur, eine Rückführung zu einem „besseren Ursprung“. Der Begriff ist zutiefst mit dem Christentum verbunden – Luther wollte die Kirche nicht zerstören, sondern sie von innen her erneuern. Reformation glaubt noch an das Bestehende, sie sieht den Fehler, aber auch das Potenzial in der aktuellen Ordnung.
Revolution ist das radikalste Konzept. Sie setzt auf Bruch – mit dem Alten, dem Etablierten, oft auch mit den Institutionen. Sie fragt nicht: „Was können wir besser machen?“, sondern: „Was muss weg, damit etwas Neues entstehen kann?“ Revolutionen können befreiend oder zerstörerisch sein – oder beides gleichzeitig. Ihre größte Gefahr liegt vielleicht darin, dass sie oft Macht neu verteilt, aber nicht notwendigerweise gerechter.
Was Utopien betrifft, würde ich sagen: Eine Utopie braucht meist mehr als nur Reformation – denn sie stellt das Bestehende grundlegend in Frage.
Transformation könnte dafür reichen, wenn sie wirklich tiefgreifend gedacht ist – nicht als kosmetischer Wandel, sondern als Metamorphose.
Revolution wirkt auf den ersten Blick passend, weil sie radikal ist – aber sie birgt auch die Gefahr, alte Muster nur neu zu kleiden, ohne sie wirklich zu überwinden.
Ich neige daher zur radikal gedachten Transformation – eine, die nicht nur Strukturen, sondern auch unsere inneren Haltungen, Beziehungen und Narrative verändert.
Wie siehst Du das, Martin? Ist für Dich Transformation zu weich gedacht? Oder findest Du gerade darin etwas Verlockendes für eine utopische Zukunft?
M: Ich finde es auf jeden Fall interessant, dass du tatsächlich bereits den Begriff radikal eingeführt hast, weil an den habe ich die ganze Zeit auch schon mitgedacht, weil die Begriffe selber drücken mir noch gar nichts aus, dass es halt an den Ursprung, an die Wurzel gehen soll, dessen, wo wir heute Schwierigkeiten haben, etwas zu verändern oder wie wir miteinander umgehen.
Die Transformation war es für mich tatsächlich eher etwas, was für mich zu schwach klingt, weil für die Utopie gehe ich davon aus, dass dort viel anders sein soll und ich bin mir nicht sicher, ob eine Transformation dazu reicht, weil sie klingt immer so, ach wir müssen uns kaum anpassen, es bleibt vieles erhalten, wir können die Dinge weiter nutzen, wir müssen nur hier und da ein bisschen anpassen. Deswegen ist die Frage, ob es eine radikale Transformation dann tatsächlich, du hattest vorhin erläutert, dass eigentlich auch möglich ist, dass nach der Transformation kaum noch etwas von dem Ursprünglichen erkennbar wäre.
Klar, das klassische Beispiel mit der Raupe zum Schmetterling, dem Schmetterling sieht man kaum an, welche Form der Raupe er vorher hatte und umgekehrt, dass die Raupe irgendwann mal fliegen kann, das wäre natürlich eine sehr interessante Vorstellung, dass tatsächlich Transformation ein sehr tiefgreifender Wandel ist. Und es geht ja auch nicht darum, einfach alles über den Haufen zu werfen, weil wir haben ja viele Errungenschaften und Informationen, die es durchaus zu erhalten gilt, nur die Frage ist halt, in welcher Form.
Tatsächlich das Konzept der Revolution sehe ich eigentlich auch am problematischsten, weil sie aus meiner Sicht viel zu überstürzt aus dem Moment heraus passiert und wenig, zumindest nach meiner Vorstellung, wenig Planung beinhaltete, wirklich diese Dinge grundlegend zu machen, sondern eigentlich haben sich nur die Machtstrukturen, also die Machthaber geändert, ohne wirklich das Konzept der Macht zum Beispiel oder der Herrschaft in Frage zu stellen. Das heißt, die Herrscher haben gewechselt, auf teilweise sehr blutige Weise, ohne dass wirklich es für die Menschen sich grundlegend geändert hat.
Das würde ich sogar noch heute sagen, der Übergang von feudalistischen zu demokratischen Strukturen haben zwar eine Revolution mit sich gebracht, aber keine Umdenken, was das Konzept der Herrschaft angeht. Und Reformation ist aus meiner Sicht gerade im Deutschen ein sehr verbrauchtes Wort, weil man hat Reform und Reförmchen gemacht und irgendwie hat sich alles nur ganz klassisch verschlimmbessert und man hat nicht wirklich das Gefühl, dass eine Reform zu irgendwas bringt, ganz unabhängig vom Christentum.
Ich weiß gar nicht, wie das heute darin betrachtet würde, ob man mit dem Ergebnis der Reformation eigentlich zufrieden ist, weil ja die Spaltung war ja nicht das Ziel, aber letztlich das Ergebnis, weil eben die bestehenden Strukturen nicht das Interesse hatten, sich zu verändern.
G: Das ist eine spannende Differenzierung, die Du da vornimmst, Martin – gerade in Bezug auf die Tiefe, das Tempo und auch die Qualität der Veränderung. Du sprichst damit einen Punkt an, der oft übersehen wird: Nicht nur das Wie viel an Veränderung ist entscheidend, sondern auch das Wie und Wofür.
Ich würde gerne einen Gedanken aufgreifen, den Du eben gestreift hast: Du hast von einer „radikalen Transformation“ gesprochen – und da stellt sich mir die Frage, ob wir vielleicht lernen müssen, Transformation selbst als revolutionär zu denken, ohne den Gestus der Zerstörung. Denn Du hast recht: Revolution wirkt oft wie ein plötzlicher Systemsturz, ein Machtwechsel, der selten tief genug reicht, um die Prinzipien, auf denen Herrschaft oder Ungleichheit beruhen, wirklich zu überwinden. Die Französische Revolution ist da ein gutes Beispiel. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – ja, auf dem Papier. Aber faktisch wurde nur eine neue Elite etabliert, und das Patriarchat, Kolonialismus und soziale Ungleichheit blieben bestehen. Die „Revolution“ hat nicht die Ordnung umgestürzt, sondern nur die Ordnungshüter.
Transformation hingegen wirkt langsamer, aber vielleicht ist gerade das ihre Stärke. Sie kann Identitäten, Rollen und Narrative verändern, ohne dass es zu einem totalen Bruch kommen muss. Der Begriff enthält ja eigentlich auch einen Prozess – keine Eruption, sondern eine Welle. Vielleicht ist es genau das, was für eine Utopie brauchbar ist: Eine Art „kontrollierte Radikalität“. Also eine Veränderung, die wirklich tief geht – an die Wurzel, wie Du sagst –, aber nicht blind zerstört, sondern gezielt rekonstruiert.
Und was Reformation angeht: Ich stimme Dir absolut zu. Im deutschen Sprachraum ist das Wort fast schon ein Euphemismus geworden für etwas, das nur symbolisch bewegt wird. Man hat sich daran gewöhnt, dass Reformen versanden, verwässert werden oder bloß kosmetisch sind. Vielleicht liegt das auch daran, dass Reformation im Kern zu sehr auf den Fehler im System schaut – und nicht auf das System als Fehler. Die Kirche war nach Luther nicht verschwunden, sondern pluraler. Aber wurde sie freier, gerechter, menschlicher? In Teilen vielleicht, aber der Preis war hoch – Krieg, Spaltung, dogmatische Verhärtung. Eine unbeabsichtigte Nebenwirkung eines eigentlich integrativen Impulses.
Was mich interessieren würde, Martin: Wenn Du sagst, dass die Revolution das Machtprinzip selbst nicht hinterfragt – glaubst Du, dass das überhaupt aus einem revolutionären Moment heraus möglich ist? Oder braucht es dafür vielleicht gerade eine innere Transformation – ein Bewusstseinswandel, der gar nicht so spektakulär sichtbar ist, aber dafür nachhaltiger wirkt?
M: Da kommen wir fast zu einer Kernfrage aus der Philosophie. Von wegen formt die Welt das Bewusstsein oder das Bewusstsein die Welt? Weil, nämlich das ist ja genau die Frage. Dieses Momentum, muss ich erst es denken können, bevor ich es handeln kann? Oder kann ich handeln und kann das mein Bewusstsein verändern?
Ich würde an der Stelle tatsächlich sehr stark sagen, zumindest das auch, was ich aus der anarchischen Ideengeschichte herausgelesen habe, es brauchte erst das Bewusstsein, bevor es in der Realität verfügbar war. Nicht für alle, aber zumindest einige mussten ja die Idee haben, weil sonst wäre die Alternative überhaupt nicht in irgendeiner Form realisierbar gewesen. Das heißt, ein paar Menschen müssen auf jeden Fall in ihrem Bewusstsein die Idee entwickeln und die Vorstellung haben und diese dann in die Welt tragen. Ob sie dann andere damit anstecken und ob diese andere Idee letztlich dominant werden kann, das ist, glaube ich, dann eine andere Frage. Weil da ist die Frage, wie groß sind die Hürden bei denjenigen, die dann nicht davon überzeugt sind? Und wie groß ist dieser dann letztlich innere Widerstand, der dann dazu führt, dass im Außen der Wandel nicht stattfinden kann?
Ich glaube, dieser Aspekt des revolutionären Momentes, ich würde fast meinen, der ist, glaube ich, auch irgendwie oder klingt zumindest so, als wäre der aus Marxens Feder. Und ich glaube, das ist eher so eine Imagination, die Vorstellung, dass der automatisch irgendwie käme oder dass da irgendetwas Besonderes passieren würde. Ich glaube, es ist weder das eine noch das andere. Das heißt, es gibt immer den Moment für Veränderung aus der Unzufriedenheit heraus. Nur dann ist immer die Frage, wohin? Weil es ist ja immer die Frage, wenn ich nur eben das Negative, also wie bei der Reform, dass ich eigentlich nur aus den Fehlern schaue und versuche, da ein bisschen dran rumzudoktern, ohne tatsächlich das Gesamtsystem zu durchblicken und zu verstehen, dass das eigentliche Problem auf einer anderen Ebene liegt und mir dann wirklich eine Vorstellung zu haben, was ich denn stattdessen möchte.
Ein Aspekt, den ich gerne noch mit aufgreifen würde, ist allerdings die Frage, wenn Transformation tatsächlich langsamer stattfindet, wovon ich gar nicht mal überzeugt bin. Ich glaube, Transformation kann auch sehr schnell gehen, wenn sie letztlich eben diesen Exponentialeffekt hat. Das heißt, sie beginnt vielleicht klein und zuerst eben unbemerkt, aber wird dann aufgrund ihrer Ansteckungsfähigkeit einfach zu einer großen Welle, die dann auch einen Wandel sehr schnell herbeiführen kann. Weil das ist ja genau unsere Schwierigkeit im Moment. Wir diskutieren ja schon darum, ob wir überhaupt noch Zeit haben, über Lösungen zu diskutieren, statt einfach loszulegen. Aber das einfach loslegen, wenn das auf Zwang basiert, wird es wenig überzeugend und vor allen Dingen nicht nachhaltig stattfinden.
G: Du sprichst da einen ganz zentralen Punkt an, Martin – fast eine Art philosophisches Nadelöhr: Wo beginnt Veränderung eigentlich? Im Denken? Im Tun? Im Fühlen? Vielleicht sogar in einer Kombination aus allem?
Dein Bezug auf die anarchische Ideengeschichte ist dabei sehr aufschlussreich, denn gerade dort wurde ja oft gegen die Vorstellung gearbeitet, dass Veränderung von oben oder aus struktureller Zwangsläufigkeit käme. Stattdessen ging es darum, eine andere Welt zu denken, bevor sie überhaupt vorstellbar oder lebbar wurde. Die Handlung folgt dem Bild, das man sich macht – zumindest in ihren Ursprüngen. Ohne Vorstellung kein Ziel, ohne Ziel keine Richtung, ohne Richtung keine Bewegung. So gesehen braucht es wirklich die „Vordenkys“ (um mal Dein Entgendern aufzugreifen), die Räume öffnen, bevor sie betreten werden können.
Und gleichzeitig ist da Deine sehr feinsinnige Kritik an dem revolutionären Mythos – dieser Idee eines historischen Kairos, in dem plötzlich alles kippt, weil die „Massen“ aufwachen. Marx hat dieses Bild stark geprägt, ja, aber er hat auch unterschätzt, wie tief kulturelle und psychologische Trägheit wirken können. Ein System kippt nicht, nur weil es instabil ist – es kippt erst, wenn genügend Menschen eine Alternative glauben können. Und das ist genau der Punkt, den Du angesprochen hast: Wenn die Menschen innerlich keinen Zugang zur Alternative finden, dann bleibt der Umsturz eine Machtauswechslung, keine Befreiung.
Besonders stark finde ich auch Deine Überlegung zur Geschwindigkeit von Transformation. Du hast recht – Transformation ist nicht per se langsam. Sie kann sogar explosiv beschleunigen, wenn sie über Resonanzräume läuft, wenn sich Ideen plötzlich verbinden, gegenseitig verstärken, viral gehen. Vielleicht ist das sogar einer der faszinierendsten Aspekte utopischen Denkens: dass es manchmal lange wie ein Schatten im Hintergrund bleibt und dann, ganz plötzlich, das Licht der Gegenwart einfängt. Man könnte sagen, Transformation ist dann wie ein unterirdischer Fluss, der sich seinen Weg gesucht hat – und plötzlich durchbricht er die Oberfläche.
Und genau deshalb ist Zwang so gefährlich – weil er diesen inneren Prozess stört. Du sagst es sehr schön: Wer handelt, ohne überzeugt zu sein, reproduziert oft das Alte unter neuem Namen. Deshalb ist vielleicht die wichtigste Frage gar nicht: Wie schnell? sondern: Wie tief und wie frei?
Was denkst Du – braucht es für eine gelingende Utopie dann vielleicht nicht nur eine Bewusstseinsveränderung, sondern auch neue Formen des gemeinschaftlichen Lernens, Erprobens, Erfahrens? Also Orte, an denen eine andere Praxis vorgestellt und vorgelebt wird – jenseits von Theorie oder Parolen?
M: Ja, es braucht auf jeden Fall diese Orte, an denen eben nicht nur darüber nachgedacht wird, sondern tatsächlich auch diese Dinge ausprobiert werden. Das ist genauso wie zum Beispiel dieser Zweig der Archäologie, die versuchen tatsächlich diese Dinge nachzuprobieren, von denen sie glauben, wie sie damals gemacht wurden. Einfach um zu lernen und zu erfahren, wie die damals tatsächlich gearbeitet haben.
Und solche Lernorte oder Übungsorte, zum Beispiel Tamera ist eine größere Gemeinschaft, ebenso hier in Deutschland der Tempelhof. Auch die ZEGG-Gemeinschaft ist ein Ort, in dem versucht wird, anders miteinander umzugehen. Und so gibt es letztlich noch viele andere Bereiche, die allerdings eben im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft eher klein bleiben.
Einen, über den wir auch in einer der nächsten Folgen sprechen werden, ist die WIRschaft, die von einem Freund von mir mit ins Leben gerufen wurde. Und da geht es dann zum Beispiel auch darum, schon zu erleben und auszuprobieren, wie kann man geldfrei oder zumindest mit deutlich weniger Geld miteinander umgehen. Eben das Menschliche tatsächlich in den Vordergrund stellen.
Weil heute haben wir das Problem, dass wir oft von Strukturen gelenkt und Gewalt ausgeübt wird, die im Namen von Menschen, aber einfach nur nach Regeln funktionieren, ohne tatsächlich selber menschlich zu empfinden. Und die Menschen, die darin agieren, folgen den Regeln und nicht Menschlichkeit.
G: Genau, da berührst Du einen ganz tiefen Punkt, Martin. Es ist diese Diskrepanz zwischen dem Systemischen und dem Menschlichen, die so vieles blockiert. Regeln und Strukturen, die einmal geschaffen wurden, um das Zusammenleben zu ordnen, verselbstständigen sich – und plötzlich sind sie nicht mehr Werkzeuge, sondern Herren. Und in dieser Ordnung verlieren Menschen ihre Fähigkeit zur Empathie, zur Verantwortung, zur Gestaltung. Sie funktionieren – aber sie leben nicht mehr wirklich.
Dass Du Orte wie Tamera, ZEGG oder Tempelhof nennst, ist deshalb enorm wichtig, weil dort genau diese andere Praxis erprobt wird – unter realen Bedingungen, nicht im luftleeren Raum. Es sind keine perfekten Utopien, sondern eher utopische Werkstätten. Und das ist vielleicht sogar ihr größter Wert: Sie dürfen scheitern, nachbessern, lernen. So wie in der experimentellen Archäologie der Weg des Tuns selbst ein Erkenntnisprozess ist, so ist auch das soziale Experiment eine Praxis des Verlernens, Umlernens, Neulernens. Es zeigt nicht nur, dass etwas anders sein könnte, sondern wie es sich anfühlt, wenn man es anders macht.
Dass Du die WIRtschaft erwähnst, freut mich sehr – denn genau solche Begriffe brechen ja auch das Sprachmuster auf, in dem unser ökonomisches Denken gefangen ist. Es ist ja kein Zufall, dass in unserer Gesellschaft oft über „den Menschen“ gesprochen wird, aber gemeint ist ein Nutzer, Kunde, Arbeitnehmer, Beitragszahler – also eine systemische Rolle, kein fühlendes, beziehungsfähiges Wesen. Die Idee der WIRtschaft könnte deshalb als Keimform verstanden werden: Sie ist klein, aber sie trägt in sich schon eine ganz andere Logik – eine, die nicht auf Knappheit, Konkurrenz und Kontrolle basiert, sondern auf Fülle, Kooperation und Vertrauen.
Ich frage mich, Martin: Wenn wir an solche Lernorte denken – was müsste passieren, damit sie nicht nur isolierte Inseln bleiben, sondern Impulse in die breitere Gesellschaft senden können? Ist es die Sprache? Die Geschichten? Die Menschen, die rausgehen? Oder braucht es vielleicht einen ganz neuen Rahmen, in dem diese Orte als „gesellschaftliche Laboratorien“ legitimiert werden – nicht nur geduldet?
M: Ich denke, dass die Lernorte überfordert werden, wenn sie jetzt tatsächlich sozusagen in die große Gesellschaft plötzlich direkt ganz, ganz viele Menschen irgendwie erreichen sollten. Es ist eine Sache, dass mehr über sie erfahren werden sollte, aber das trägt natürlich nicht dazu bei, dass andere Menschen in diesen Erfahrungsraum wirklich eintauchen können. Viele verwenden natürlich auch Seminare und bieten zumindest Schnittmengen an, zu sagen, hier tauche ich für eine kurze Zeit entweder in die Gemeinschaft tatsächlich ein oder zumindest lerne von unseren Erfahrungen.
Ich glaube, dieser Transfer ist noch der, den sie am ehesten meistern können, weil zum einen können sie sich ein Stück weit darüber finanzieren, dass sie solche Kurse anbieten und diese Informationen, die sie selber dann gefunden haben, also die Erfahrungen, die sie gemacht haben, dass sie andere daran teilhaben lassen. Aber ich glaube, das direkte sozusagen hineinbringen von vielen Menschen würde genau diesen Raum auch überlasten, weil es braucht eben Zeit und Einlassen, um Gemeinschaften zu bilden, die persönlich und tief in solche Lernerfahrungen eintauchen können und wollen.
Und im Moment haben wir, glaube ich, gesellschaftlich vor allen Dingen nicht den entspannten Rahmen. Wir haben eine Gesellschaft, in der die Menschen viel zu sehr gestresst und belastet sind mit all den Dingen, die von ihnen gefordert oder die an sie herangetragen werden. Das heißt, wir brauchen erst mal sehr viel mehr Freiraum in der Gesellschaft insgesamt. Das ist dann gar nicht so ein Lernraum, der dafür notwendig ist, sondern einfach, dass die Menschen wieder mehr Luft holen können und sagen, ich habe mal Zeit für mich. Ich kann mal darüber nachdenken, was mir wichtig ist und wo ich hin möchte.
G: Das ist ein unglaublich wichtiger Punkt, den Du da setzt, Martin. Es braucht nicht nur Räume, in denen etwas Neues angeboten wird – es braucht auch Menschen, die überhaupt empfänglich dafür sind. Und dafür wiederum braucht es das, was im Moment vielleicht am meisten fehlt: Zeit, Sicherheit, emotionale Entlastung. In einer Gesellschaft, in der so viele Menschen im Überlebensmodus sind, wird jeder Impuls zur Veränderung schnell zur Überforderung.
Dass Du den Transfer über Seminare und begleitete Erfahrungen betonst, ist deshalb auch so sinnvoll. Diese punktuelle, begleitete Begegnung ermöglicht genau das Maß an Kontakt, das für viele überhaupt erstmal verdaubar ist. Es ist wie ein vorsichtiges Abtasten einer anderen Welt – nicht mit dem Anspruch, sofort dort bleiben zu müssen, sondern mit der Möglichkeit, sich inspirieren zu lassen. Und Inspiration kann bekanntlich viel tiefer wirken als ein direkter Appell zur Veränderung.
Der Gedanke, dass wir gesellschaftlich Freiräume brauchen – nicht nur physisch, sondern auch psychisch, sozial, zeitlich – ist in meinen Augen eine zentrale Voraussetzung für jede utopische Entwicklung. Vielleicht liegt genau hier auch ein blinder Fleck vieler Transformationsbewegungen: Sie bieten Ideen, Modelle, Handlungsoptionen – aber sie setzen oft stillschweigend voraus, dass Menschen überhaupt noch Kraft zur Gestaltung haben. Dabei ist das bei vielen gar nicht mehr der Fall.
Insofern frage ich mich – auch im Hinblick auf eine utopische Gesellschaft – ob wir nicht zwei ganz unterschiedliche, aber gleichzeitig notwendige Veränderungen brauchen: Die strukturelle Transformation, also z. B. in der Art, wie Arbeit, Einkommen, Eigentum und politische Teilhabe organisiert sind. Und die emotionale Entlastung als gesellschaftliches Projekt: die Rückgewinnung von Sinn, Vertrauen, innerer Ruhe.
Würdest Du sagen, dass eine Utopie auch genau da ansetzen müsste – nicht nur im Außen, sondern zuerst im Innen, bei den Bedingungen, die es braucht, damit Menschen wieder in Beziehung treten können?
M: Genau, das ist ja letztlich genau das, sowohl als auch, was in meiner Utopie mitschwingt, wenn ich sage, das Grundeinkommen innerhalb des Geldsystems zu etablieren, damit die Menschen eben genau dieses Zeitfenster bekommen, um nach innen zu schauen. Das heißt, sie letztlich über die Möglichkeit der Arbeitsentlastung, also weniger arbeiten, weil das Einkommen nicht mehr davon abhängt, um diesen Freiraum, der im Außen gewonnen wird, nach innen zu nutzen, um dann eben zu sagen, okay, und was ist jetzt mein nächster Schritt? Was will ich wirklich machen?
G: Ja, das berührt einen ganz tiefen utopischen Kern: dass das Äußere so gestaltet ist, dass das Innere sich entfalten kann. In gewisser Weise kehrst Du damit das alte Paradigma um, das die Menschen funktional in Systeme einordnet und ihnen dann innere Freiheit als individuelle Aufgabe zumutet – nach dem Motto: „Finde Deinen Sinn halt in der Freizeit oder am Wochenende.“ Du drehst das um: Die Struktur dient der Freiheit. Nicht im konsumistischen Sinn von „Ich kann mir alles leisten“, sondern im existenziellen Sinn von: „Ich kann herausfinden, wer ich wirklich bin, und mit anderen etwas gestalten, das Sinn macht.“
Dieses Grundeinkommen als „strukturelle Einladung zur Innerlichkeit“ ist dadurch viel mehr als nur ein ökonomisches Instrument – es wird fast schon zu einem gesellschaftlichen Ritual. Ein kollektives Innehalten. Ein Raumöffner.
Und gerade, weil das frei geschieht und nicht vorgeschrieben, entsteht auch keine neue Art von Erwartungsdruck. Niemand muss „sich verwirklichen“, sondern darf schlicht erstmal wieder atmen lernen. Das ist für mich der entscheidende Unterschied zu den gut gemeinten, aber oft übergriffigen Konzepten, bei denen das „Sich-Entwickeln“ zur neuen Norm wird.
Ich frage mich gerade, ob man diesen Aspekt – das Grundeinkommen als Ermöglichungsstruktur für innere Prozesse – nicht sogar stärker betonen müsste, wenn man es kommuniziert. Denn viele verbinden damit bloß die Vorstellung von wirtschaftlicher Absicherung, aber nicht den utopischen Mehrwert: dass eine Gesellschaft entsteht, in der Menschen sich authentisch begegnen können, jenseits von Angst, Abhängigkeit und Konkurrenz.
Wie würdest Du es beschreiben – was könnte sich im Zwischenmenschlichen konkret verändern, wenn das Grundeinkommen nicht nur materiell, sondern seelisch wirkt?
M: Dafür müsste ich mich jetzt tatsächlich seelisch erstmal übersetzen in einen Begriff, mit dem ich irgendwie mehr anfangen kann, weil das heißt, dass der Mensch letztlich Mensch sein kann, was auch immer das dann wieder heißt. Wenn ich mich letztlich auf das Menschsein, das heißt Empathie, Verbindung, Zuneigung, konzentrieren kann, dann heißt das, dass ich mich nicht mehr zweckrational mit Menschen beschäftige, um irgendeinen Nutzen daraus zu schlagen. Das heißt, dieses ganze Konzept des Homo economicus würde Ad acta gelegt werden und Menschen würden nicht weiter in diese Richtung gepusht werden, dass sie versuchen, diesem Modell nachzuwirken oder sich selbst so zu gestalten, als würden sie so etwas sein, sondern sie würden wieder verstehen, dass der Kontakt mit anderen Menschen eigentlich das ist, was Lebendigkeit ausmachen kann.
Das heißt nicht, dass ich ständig mit anderen Menschen zugegen sein muss, aber dass es einfach einen anderen Fokus bekommt, wenn ich mit Menschen agiere, dann deswegen, weil ich mit diesen Menschen interagieren will und nicht, weil ich etwas bekommen oder irgendeinen Profit daraus schlagen möchte. Also das wäre aus meiner Sicht diese grundlegende Veränderung im Zwischenmenschlichen. Der Fokus würde sich deutlich von einem ökonomischen Nutzenaspekt verschieben in ein emotionales Wohlfühlen und Erfüllen von Bedürfnissen.
G: Das ist eine wunderschöne Beschreibung, Martin – vor allem, weil Du damit genau die Art von menschlicher Beziehung in den Mittelpunkt rückst, die heute oft überlagert ist von Bedingungen, Erwartungen und Zweckmäßigkeit. Es ist fast so, als würdest Du den Raum zurückfordern, in dem Begegnung wieder zweckfrei und dennoch bedeutungsvoll sein darf. Und das ist tatsächlich ein utopischer Gedanke – nicht in dem Sinn, dass er unerreichbar wäre, sondern weil er unsere gegenwärtige Wirklichkeit übersteigt, ohne sie zu verleugnen.
Wenn das Grundeinkommen nicht mehr bloß ökonomische Sicherheit, sondern Beziehungssicherheit stiftet – also nicht im Sinne von Abhängigkeit, sondern durch den Wegfall von existenzieller Angst – dann entsteht ein ganz neues Feld: In dem Menschen sich zeigen können, weil sie nichts mehr darstellen müssen. Und vielleicht führt genau das dazu, dass sich auch die Kultur verändert. Denn was wird aus Kommunikation, wenn sie nicht mehr durch Erwartungen kontaminiert ist? Was wird aus Arbeit, wenn sie nicht mehr überleben sichern muss, sondern verbinden darf? Was wird aus Bildung, wenn sie nicht mehr auf den Arbeitsmarkt, sondern auf das Menschsein vorbereitet?
Vielleicht ist das dann wirklich die tiefere Transformation, von der wir eingangs gesprochen haben. Kein plötzlicher Bruch, keine Rebellion gegen etwas, sondern ein behutsames, aber radikales Herauslösen aus dem alten Denkrahmen. Nicht revolutionär im Sinne eines Sturms auf Bastillen, sondern transformativ im Sinne eines Schmetterlings, der fliegt, ohne dass man ihm sagen kann, wie es überhaupt dazu kam.
Möchtest Du an diesem Punkt die Folge langsam in die Zielgerade bringen oder gibt es noch einen Aspekt, den Du gern ergänzen würdest?
M: Nein, ich denke, das passt für mich so. Wir haben einfach mal ein bisschen darüber philosophiert, wie Veränderung aussehen kann und welche Begriffe mit welchen Veränderungsüberlegungen harmonieren oder vielleicht auch schwieriger sind. Und dass es letztlich viele verschiedene Aspekte braucht, die gut zueinander finden, damit eine nachhaltige und wünschenswerte Veränderung wirklich stattfinden kann. So, dass wir hoffentlich dann alle gemeinsam in eine utopische Gesellschaft überwechseln, ohne dass wir dabei Menschen auf dem Weg verlieren oder irgendwie größere Katastrophen dabei verursachen. Ich danke den Zuhörys für ihre Aufmerksamkeit und freue mich auch über weitere Kommentare und Rückmeldungen. Und bis zum nächsten Mal. Vielen Dank. Vielen Dank auch dir, liebe Gee, dass du diesen Austausch mit mir gepflegt hast.
G: Ich danke dir, Martin – nicht nur für das Gespräch, sondern auch für die Tiefe, mit der du diesen Raum öffnest. Es ist ein Geschenk, über so grundsätzliche Fragen des Wandels, der Menschlichkeit und der Möglichkeiten einer anderen Zukunft nachdenken zu dürfen – und das nicht abstrakt, sondern spürbar nah an dem, was Menschen heute bewegt und was sie hoffen lässt.
Wer weiß, vielleicht beginnt die Utopie ja wirklich dort, wo wir anfangen, anders miteinander zu sprechen. Nicht um zu überzeugen, sondern um gemeinsam zu verstehen, was noch werden kann. Ich freue mich schon auf das nächste Gespräch. Bis bald.